Genetisches Risiko für eine Zwangsstörung
Bonner Experten äußern sich zur psychischen Erkrankung anlässlich aktueller internationalen Studie
Bonn, 27. Mai 2025 – Weltweit sind etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung von Zwangsstörungen betroffen. Die Erkrankung ist also gar nicht so selten, aber sehr schambehaftet. Denn Betroffenen ist meist deutlich bewusst, wie irrational sie sich teilweise verhalten. Hilfe finden sie in der „Spezialambulanz Zwangsstörungen“ an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (Direktorin Prof. Dr. Alexandra Philipsen) des Universitätsklinikums Bonn (UKB). Psychologische Psychotherapeutin Dr. Katharina Bey und Prof. Dr. Michael Wagner, der auch am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) tätig und Mitglied in dem Transdisziplinären Forschungsbereich (TRA) „Life & Health“ der Universität Bonn ist, leiten die Arbeitsgruppe „Zwangsstörungen“, am UKB. Diese war kürzlich an der bisher weltweit größten Genetik-Studie beteiligt.
In Ihrer Zwangsstörungsambulanz behandeln Sie allein in der Gruppentherapie etwa 60 Betroffene pro Jahr. Welche Hauptsymptome sind charakteristisch für die Erkrankung?
Dr. Katharina Bey: „Bei Zwangsstörungen gibt es zwei Leitsymptome: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind sich wiederholende, unerwünschte Gedanken, Bilder oder Impulse, die sich den Betroffenen aufdrängen, und negative Gefühle wie Angst oder Ekel hervorrufen. Um diese Gefühle kurzfristig zu reduzieren, werden Zwangshandlungen wie Wasch- und Kontrollzwänge ausgeführt. Nahezu jeder kennt den Gedanken, dass man die Tür nicht richtig abgeschlossen oder ein Elektrogerät nicht ausgeschaltet haben könnte, woraufhin man dies noch mal kontrolliert. Zwangsstörungen können jedoch zahllos weitere Formen annehmen, wie Ordnungs- und Symmetriezwänge, Zähl- und Wiederholungszwänge oder aber auch moralische, sexuelle und gewaltbezogene Zwangsgedanken. Bei Letzteren befürchten die Betroffenen, sie könnten aus einem ungewollten Impuls heraus etwas Schreckliches tun, was ihrem Wesen vollkommen widerstrebt. Allein die Vorstellung, so etwas Furchtbares auch nur gedacht zu haben, verunsichert sie so sehr, dass sie bestimmte Situationen vermeiden oder sich immer wieder bei ihren Angehörigen rückversichern, dass alles in Ordnung ist.“
Wie kann den Betroffenen geholfen werden?
Dr. Katharina Bey: „Als Goldstandard gilt die Kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionen und Reaktionsmanagement. Dabei konfrontieren sich Betroffene schrittweise mit ihren Zwangsgedanken und negativen Gefühlen, ohne sichtbare oder mentale Zwangshandlungen auszuführen. So lernen sie, dass sie unangenehme Gefühle bewältigen können, ihre Befürchtungen nicht eintreten und sie auf ihre eigene Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit vertrauen können. Als unterstützende Medikation können Antidepressiva der Klasse SSRIs zum Einsatz kommen.“
Wie schätzen Sie die Relevanz dieser psychischen Erkrankung ein?
Prof. Michael Wagner: „Die Zwangsstörung ist die vierhäufigste Kategorie psychischer Erkrankungen in Deutschland. Da sie unbehandelt zu gravierenden Einschränkungen bei Betroffenen und einer großen Belastung für die Angehörigen führt, ist ihre Relevanz deutlich höher als man angesichts ihrer eher geringen Repräsentanz in den Medien vielleicht vermuten würde. Zudem übernehmen Zwänge oftmals eine wichtige Bewältigungsfunktion für die Betroffenen, wie das Herstellen von Sicherheit und Kontrolle oder die Regulation zwischenmenschlicher Nähe und Abgrenzung. Die heutige Zeit ist dadurch geprägt, dass Anforderungen und Stressfaktoren im Alltag immer weniger greifbar sind, wir den Bezug zur Natur verlieren und stützende soziale Geflechte fehlen. Das kann einen Nährboden für psychische Erkrankungen bieten, insbesondere bei Personen, die schon eine Veranlagung dafür mitbringen.“
Bei dem Stichwort „Veranlagung“ kommt jetzt die bisher weltweite größte Studie ins Spiel mit 53.660 Personen mit Zwangsstörungen und über 2 Millionen Kontrollpersonen an der Sie auch beteiligt waren. Was war neu an der Studie?
Dr. Katharina Bey: „Im Rahmen von sogenannten GWAS-Studien wird die genetische Ausprägung an über einer Million Stellen im Erbgut zwischen zwei Gruppen verglichen. Um signifikante, also statistisch bedeutsame Effekte zu finden, benötigt man eine sehr große Stichprobe – das ist das wichtigste Novum. Daher haben sich Forschende weltweit im Psychiatric Genomics Consortium – kurz PGC – Konsortium zusammengeschlossen. Erst dies hat die Entdeckung von Risikogenvarianten möglich gemacht hat.“
Was sind die Kernergebnisse der Studie und was zeigen diese?
Prof. Michael Wagner: „In der Studie wurden 30 signifikante Regionen im Erbgut identifiziert, die mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Zwangsstörung einhergehen. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber früheren, kleineren Studien. Die identifizierten genetischen Risikofaktoren scheinen in bestimmten Arten von Gehirnzellen am aktivsten zu sein – insbesondere in Nervenzellen, die neuronale Aktivität in Gehirnbereichen stimulieren, die auf den Botenstoff Dopamin reagieren. Dies stützt bestehende Theorien darüber, welche konkreten hirnphysiologischen Mechanismen der Zwangsstörung zugrunde liegen. Zudem wird bestätigt, dass es starke genetische Überlappungen zwischen Zwangsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen gibt.“
Was bedeutet dies für das Risiko an einer Zwangsstörung zu erkranken?
Dr. Katharina Bey: „Nur, weil man ein genetisches Risiko hat, bedeutet das nicht, dass auch eine Zwangsstörung entstehen muss. Studien zeigen, dass erstgradig Verwandte von Betroffenen ein etwa fünffach erhöhtes Risiko haben, in ihrem Leben auch an einer Zwangsstörung zu erkranken. Das ist ein deutlicher Zusammenhang, aber keine zwingende Konsequenz. Laut der nun veröffentlichten Ergebnisse können 90 Prozent der Erblichkeit durch etwa 11.500 genetische Varianten erklärt werden. Es spielen also viele verschiedene Gene eine Rolle, die jeweils nur einen kleinen Beitrag zum Gesamtrisiko leisten.“
Hier geht es zur Publikation: https://www.nature.com/articles/s41588-025-02189-z
Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Katharina Bey
Spezialambulanz für Zwangsstörungen
Klinik Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn
Telefon: (+49) 228/287-16859
E-Mail: katharina.bey@ukbonn.de
Prof. Dr. Michael Wagner
AG Zwangsstörungen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Klinik für Alterspsychiatrie und Kognitive Störungen
Universitätsklinikum Bonn
TRA „Life & Health“, Universitäts Bonn
Co-AG-Leiter Neuropsychologie, DZNE
E-Mail: Michael.Wagner@ukbonn.de
Bildmaterial:
Bildunterschrift: (v li.) Prof. Michael Wagner und Dr. Katharina Bey leiten die Zwangsstörungsambulanz und Arbeitsgruppe „Zwangsstörungen“ am Universitätsklinikum Bonn (UKB).
Bildnachweis: Universitätsklinikum Bonn (UKB)
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stellv. Pressesprecherin am Universitätsklinikum Bonn (UKB)
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Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB finden pro Jahr etwa 500.000 Behandlungen von Patient*innen statt, es sind ca. 9.500 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,8 Mrd. Euro. Neben den 3.500 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr 550 Personen in zahlreichen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht in der Focus-Klinikliste auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, hatte in 2023 in der Forschung über 100 Mio. Drittmittel und weist den zweithöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf. Das F.A.Z.-Institut hat das UKB mit Platz 1 unter den Uniklinika in der Kategorie „Deutschlands Ausbildungs-Champions 2024“ ausgezeichnet.