Neue Einblicke in das menschliche Gedächtnis
Forschende aus Bonn und Freiburg entschlüsseln, wie das Gehirn einem inneren Rhythmus folgt
Bonn, Freiburg, 11. August – Ein Forschungs-Team des Universitätsklinikums Bonn (UKB), der Universität Bonn und des Universitätsklinikums Freiburg hat neue Erkenntnisse über die Gehirnprozesse gewonnen, die sich beim Speichern und Abrufen neuer Gedächtnisinhalte abspielen. Die Studie basiert auf der Messung einzelner Nervenzellen bei von Epilepsie betroffenen Personen und zeigt, wie diese einem inneren Rhythmus folgen. Die Arbeit ist jetzt in dem Fachjournal „Nature Communications“ veröffentlicht.
„Ähnlich wie die Mitglieder in einem Orchester, die sich an einem gemeinsamen Takt orientieren, ist die Aktivität der Nervenzellen offenbar mit elektrischen Schwingungen – ein- bis zehnmal pro Sekunde – im Gehirn verknüpft. Dabei feuern die Zellen bevorzugt zu bestimmten Zeitpunkten innerhalb dieser Hirnwellen, ein Phänomen namens Theta-Phasenbindung“, sagt Erstautor und Postdoktorand der Universität Bonn Dr. Tim Guth, der kürzlich vom Universitätsklinikum Freiburg zur Arbeitsgruppe „Kognitive und Translationale Neurowissenschaften“ am UKB gewechselt ist.
Das Forschungsteam um Tim Guth und Lukas Kunz fand heraus, dass das Zusammenspiel von Nervenzellen und Hirnwellen sowohl beim Merken als auch beim Erinnern neuer Informationen aktiv ist – und zwar im medialen Schläfenlappen, einem zentralen Bereich für das menschliche Gedächtnis. In der durchgeführten Studie zum räumlichen Gedächtnis war die Stärke der Theta-Phasenbindung der Nervenzellen während der Gedächtnisbildung jedoch unabhängig davon, ob sich die Testpersonen später korrekt an die Gedächtnisinhalte erinnern konnten oder nicht. „Dies legt nahe, dass die Theta-Phasenbindung zwar ein generelles Phänomen des menschlichen Gedächtnissystems ist, jedoch nicht allein über das erfolgreiche Erinnern entscheidet“, sagt Korrespondenzautor Prof. Dr. Lukas Kunz, Leiter der Arbeitsgruppe „Kognitive und Translationale Neurowissenschaften“ an der Klinik für Epileptologie am UKB und Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich (TRA) „Life & Health“ der Universität Bonn.
Interaktion von Nervenzellen und elektrischen Signalen
Während die meisten Nervenzellen immer um den gleichen Schwingungszeitpunkt feuerten, wechselten manche Nervenzellen spannenderweise ihren bevorzugten Taktzeitpunkt zwischen Lernen und Erinnern. „Dies unterstützt die Theorie, dass unser Gehirn Lern- und Abrufprozesse innerhalb einer Hirnwelle voneinander trennen kann, ähnlich wie Mitglieder eines Orchesters, die zu verschiedenen Taktzeitpunkten eines Musikstücks einsetzen“, sagt Guth. Die Studie liefert neue Hinweise darauf, wie Nervenzellen und elektrische Signale im Gehirn zusammenwirken, während sich neue Erinnerungen formen. Prof. Kunz zieht folgendes Fazit: „Ein besseres Verständnis dieser Prozesse könnte langfristig dabei helfen, Gedächtnisstörungen besser zu verstehen und gezielter zu behandeln.“
Das Forschungsteam konnte das Zusammenspiel von Nervenzellen und Hirnwellen während des Gedächtnisprozesses im Rahmen der Studie beobachten, indem es eine Besonderheit der Therapie von Epilepsie nutzte. Menschen mit besonders schwer behandelbarer Epilepsie werden zur Diagnostik Elektroden im Gehirn implantiert. Damit soll der Ursprung der epileptischen Anfälle genau bestimmt werden, um bessere chirurgische Ergebnisse zu erzielen. Unter Verwendung dieser implantierten Elektroden kann aber auch die menschliche Gehirnaktivität von einzelnen Zellen aufgezeichnet werden. Die Forschenden nutzten Messungen, die am Universitätsklinikum Freiburg durchgeführt wurden, und danken allen Betroffenen, die an dieser Studie teilgenommen haben.
Beteiligte Institutionen und Förderung:
Neben dem Universitätsklinikum Bonn (UKB), der Universität Bonn und dem Universitätsklinikum Freiburg war die Columbia University (New York, USA) beteiligt. Die Forschungsarbeiten wurden durch das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR), die US-amerikanische Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH), die US-amerikanische National Science Foundation (NSF), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie durch das Rückkehrprogramm des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Publikation: Guth et al.: Theta-phase locking of single neurons during human spatial memory; Nature Communications; DOI: 10.1038/s41467-025-62553-9
https://www.nature.com/articles/s41467-025-62553-9
Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Tim Guth
Postdoktorand der Universität Bonn
Arbeitsgruppe „Kognitive und Translationale Neurowissenschaften“
Klinik für Epileptologie, Universitätsklinikum Bonn
E-Mail: Tim.Guth@ukbonn.de
Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Lukas Kunz
Arbeitsgruppenleiter „Kognitive und Translationale Neurowissenschaften“
Klinik für Epileptologie, Universitätsklinikum Bonn (UKB)
TRA „Life & Health“, Universität Bonn
E-Mail: Lukas.kunz@ukbonn.de
Bildmaterial:
Bildunterschrift: Neue Einblicke in das menschliche Gedächtnis: (v. li) Dr. Tim Guth und Prof. Lukas Kunz entschlüsseln, wie das Gehirn einem inneren Rhythmus folgt.
Bildnachweis: Universitätsklinikum Bonn (UKB) / Rolf Müller
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stellv. Pressesprecherin am Universitätsklinikum Bonn (UKB)
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Zum Universitätsklinikum Bonn: Im UKB finden pro Jahr etwa 500.000 Behandlungen von Patient*innen statt, es sind ca. 9.500 Mitarbeiter*innen beschäftigt und die Bilanzsumme beträgt 1,8 Mrd. Euro. Neben den 3.500 Medizin- und Zahnmedizin-Studierenden werden pro Jahr 550 Personen in zahlreichen Gesundheitsberufen ausgebildet. Das UKB steht in der Focus-Klinikliste auf Platz 1 unter den Universitätsklinika (UK) in NRW, hatte in 2023 in der Forschung über 100 Mio. Drittmittel und weist den zweithöchsten Case Mix Index (Fallschweregrad) in Deutschland auf. Das F.A.Z.-Institut hat das UKB mit Platz 1 unter den Uniklinika in der Kategorie „Deutschlands Ausbildungs-Champions 2024“ ausgezeichnet.